Neurowissenschaftler enthüllen: Wann wird ein Artikel viral?

Nicht nur Blogger und online-Marketing-Experten beschäftigt die Frage: Warum verbreitet sich der eine Artikel viral wie ein Lauffeuer, der andere – ganz ähnliche – wird aber nie viral? Erstmalig haben nun Neurowissenschaftler der University of Pennsylvania untersucht, welche Gehirnaktivitäten dazu führen, dass ein Artikel gelesen und über soziale Medien weiterempfohlen (viral) wird. Tatsächlich kann man mit ihrer Methode sogar die Viralität eines Artikels vorhersagen. „Wir alle möchten Inhalte lesen oder weitergeben, die sich auf unseren eigenen Erfahrungsschatz beziehen und auf unser Selbstbild: Wer wir sind oder wer wir sein wollen“, so die Leiterin der Studie Dr. Emily Falk. „Wir teilen mit anderen die Informationen, die uns schlau, empathisch oder sonst wie in einem positiven Licht erscheinen lassen und die unsere Beziehungen zu denen, mit denen wir teilen, verbessern können.“

Viralität messbar machen

Das alles sind sehr weiche, subjektive Kriterien. Die Wissenschaftler wollten mit dieser Forschungsarbeit Viralität in eine rationale, messbare Form bringen. Bestimmte Regionen im Gehirn müssen ja irgendwie bestimmen, wie wertvoll wir eine Information einschätzen und wie “weiterempfehlenswert” sie für uns ist. Dieser vom Gehirn festgelegte Wert müsste sich direkt in ein Maß von Viralität übersetzen lassen.

Messung der Gehirnaktivität

Die Neurowissenschaftler maßen mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT, s.u.) Hirnaktivität von 80 Versuchspersonen, während diese die Überschriften und Zusammenfassungen von ca. 80 Artikeln lasen. Jeder Proband las also etwa 80 Überschriften und Abstracts von Texten aus dem Gesundheitsteil der New York Times. Sie behandelten Themen wie Ernährung, Fitness oder gesundes Leben und waren zwischen 21 und 35 Wörtern lang. Jeder Text wurde je nach Länge zwischen 8 und 12 Sekunden am Bildschirm präsentiert. Danach wurden die Probanden gefragt, was das Thema des Textes sei und ob sie den ganzen Artikel lesen und über Facebook weiterempfehlen würden. Bei der fMRT-Bildanalyse konzentrierten sich die Forscher auf drei Regionen der Großhirnrinde. Von diesen ist bereits durch frühere Studien bekannt, dass sie assoziiert sind:
  • mit selbstbezogenem Denken,
  • mit der Bestimmung , ob etwas für uns und unser Leben relevant ist
  • und mit der Vorstellung, was andere denken.

Was denken Menschen, wenn sie sharen?

Natürlich ist es naheliegend, dass ein Leser an sich selbst denkt, wenn er sich dazu entscheidet, etwas zu lesen. Und dass er an andere denkt, wenn er sich entscheidet, etwas weiterzuempfehlen. Die fMRT-Messungen zeigten jedoch etwas ganz anderes: Ob die Probanden entschieden, etwas zu lesen oder ob sie beschlossen, etwas weiter zu empfehlen, in beiden Fällen dachten sie sowohl an sich, wie an andere. Tatsächlich konnte man sogar die höchste Gehirnaktivität sowohl in den selbst- wie in den fremdbezogenen neuronalen Systemen messen, wenn die Probanden darüber nachdachten, etwas weiter zu empfehlen. Oder etwas flapsig formuliert, wenn die Versuchspersonen daran dachten, etwas weiterzuempfehlen, dachten sie mindestens genauso an ihren eigenen Vorteil. Wie die Wissenschaftler herausfanden, werden beim Lesen vor allem die beiden letztgenannten Gehirnareale aktiv (siehe unten). Das Gehirn entscheidet offenbar anhand der Signalstärke in diesen beiden Regionen, ob eine Information – also in dem Fall ein Artikel der New York Times – wertvoll ist, gelesen und geteilt wird oder eben nicht.

Viralität kann man voraussagen

Wie die Forscher auch zeigten, kann man aus der Messung der Gehirnaktivität sogar die Wahrscheinlichkeit für eine virale Verbreitung eines Artikels vorhersagen. Dazu maßen die Forscher die Verbreitung der getesteten 80 Artikel über Facebook, Twitter oder mit E-Mails durch alle New York Times Leser. Das ergab insgesamt 117.611 Shares in den 30 Tagen nach Veröffentlichung. Tatsächlich konnte die Sharing-Rate der Artikel sehr genau mit der neuronalen Aktivität der Probanden in den oben besprochenen Regionen der Großhirnrinde korreliert werden. Und das obwohl die Probanden in Alter und anderen demographischen Faktoren (Studenten von 18 bis 24 Jahren) nicht mit den typischen New York Times Lesern (deren Sharing gemessen wurde) übereinstimmt. „Wir können mit einer relativ kleinen Anzahl von Gehirn-Scans voraussagen, wie sich die Gesamtzahl der New York Times Leser verhalten wird“, so die Erstautorin Christin Scholz. Die beteiligten Gehirnregionen scheinen bei allen Menschen die gleichen zu sein. Was wir beim Lesen eines Artikels jedoch über uns und über andere denken, das kann unterschiedlich sein, das sieht man im Scan natürlich nicht. Der eine denkt vielleicht, der Artikel bringt seinen Freund zum Lachen, der andere empfiehlt ihn weiter, weil er seinem Freund bei einem Problem hilft oder weil er einfach denkt, dass seine Freunde ihn interessant finden. Trotzdem sind die neuronalen Aktivitäten in allen Fällen sehr ähnlich und können als gemeinsamer Nenner für unterschiedliche Arten von sozialen und selbstbezogenen Denken dienen.

Nach dieser Studie wird ein Leser einen Artikel dann weiterverbreiten:

  • wenn das in irgendeiner Form ein positives Licht auf in wirft. D.h. wenn es ihn z.B. intelligenter, humorvoller oder empathischer erscheinen lässt.
  • Und wenn es seine Beziehung zum Zielpublikum in irgendeiner Form verbessert.

Wie sind die Ergebnisse einzuordnen?

Neu sind bei dieser Arbeit nicht die Ergebnisse, also was einen Artikel viral macht, das hatte man früher schon durch einfache Umfragen festgestellt. Neu ist, dass sich die Viralität eines Artikels tatsächlich durch objektive Hirnmessungen vorhersagen lässt. Das ist interessant, der praktische Nutzen ist allerdings begrenzt, denn wer kann schon eine Magnetresonanz-Tomographie für seine Content-Erstellung nutzen. Die Ergebnisse implizieren aber, dass es offensichtlich ein generelles Phänomen ist, ob ein Artikel viral wird oder nicht. „Die Tatsache, dass ein Artikel in ganz verschiedenen Gehirnen dieselben Akkorde anschlagen lässt, deutet darauf hin, dass ganz ähnliche Motivationen und ähnliche Normen diese Verhalten antreiben“, so die Forscher.  

Hintergrundinfos

Funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRT)

Die fMRT ist ein bildgebendes Verfahren, das nicht nur die organischen Strukturen, sondern auch die Funktionszustände der Organe darstellt. Im Gehirn sieht man also nicht nur die einzelnen Gehirnregionen, sondern auch ihre neuronale Aktivität mit hoher Auflösung. Gemessen wird die Durchblutung, die sich bei Aktivierung einer Gehirnregion erhöht.  

Die untersuchten Gehirnregionen

Bei dieser Studie fanden die Neurowissenschaftler eine erhöhte Nervenaktivität vor allem in zwei Gehirnregion:
  • der mediale präfrontale Cortex (MPFC)
  • das posteriore Cingulum (PC).
Der präfrontale Cortex ist ein Teil des Stirnlappens der Großhirnrinde. Er führt so genannte exekutive Funktionen aus, wie Antizipation von Handlungskonsequenzen, Planung künftiger Handlungen, Handlungssteuerung, Problemlösung. Das posteriore Cingulum (Brodmann-Areal 23) ist ein Teil des Gyrus cinguli, einer Gehirnwindung der Großhirnrinde, die mitten im Gehirn (im Spalt der Hemisphären) liegt. Es gilt als das Bewusstseinszentrum des Gehirns, was jedoch eine starke Vereinfachung ist, denn es hat noch viele andere Funktionen.

Quellen:

Christin Scholz, Elisa C. Baek, Matthew Brook O’Donnell, Hyun Suk Kim, Joseph N. Cappella, and Emily B. Falk: A Neural Model of Valuation and Information Virality. In PNAS. Published online February 27 2017 doi:10.1073/pnas.1615259114 Brain Images Of Sharing Predicts Which Articles Go Viral Science 2.0 Blog, 27.02.2017